Papier wickelt Stein ein

von Johannes Lothar Schröder
Teigblasen und Sprechblasen. Windbeutel, so erfährt man aus Rezeptbüchern, werden aus einem Brandteig gemacht. Gebacken unterscheidet sich dieser Teig vom Mürbeteig, der weitgehend in seiner Form verharrt, und dem Hefeteig, der aufgeht und mit vielen Blasen luftig wird, durch eine einzige große Blase, die in jeder auf das Backblech gespritzten Portion entsteht. Dieser unter Köchen geschätzte Hohlraum kann mit allerhand Süßem und Pikantem gefüllt werden.
Zur Metapher für diejenigen geworden, die das Blaue vom Himmel erzählen, reiht man Windbeutel unter die Aventuriers, Prahler und seichten Köpfe oder rechnet sie zu den Heuchlern, Gleisnern, Scheinheiligen, geschäftigen Schwätzern und Plaudertaschen. Alle diese Bezeichnungen setzen die wörtliche Rede herab, obwohl diese in keiner Weise der äußerstes Geschick und Ausdauer verlangenden Herstellung von Windbeuteln nachstehen muß. Die erste Schwierigkeit besteht schon darin, Mehl in kochendes Wasser, in der Butter, Zucker und Salz gelöst sind, einzurühren ohne daß es klumpt. Wenn sich die Masse vom Topfrand ablöst, wird während des Abkühlens zunächst ein Ei eingearbeitet und später, ehe der Teig völlig erkaltet ist, folgen weitere drei Eier. Diese Zubereitung bewirkt, daß sich beim Backen in der festen, knusprigen Hülle alle im Eiweiß entstehenden Blasen zusammenschließen.
Wenn heiße Luft zum Inbegriff des gesprochenen Wortes wird, das einen überhitzten Körper verläßt, sind wohl die im Affekt gesprochenen Worte gemeint, denen man den Ernst abgewogener Äußerungen abspricht. Demgegenüber ist zugunsten von Windbeuteln festzuhalten, daß sie nach dem Abkühlen stabile Hohlformen bilden. Ins Zweidimensionale übertragen, findet man solche Blasen in Comics als Begrenzungen auch ungezügelter Laute, wilder Reden und schräger Geräusche. Wenn sie in dieser Funktion als anstößige Wortblasen gesehen werden, ist das kaum nachvollziehbar, besonders, wenn man in der Analogie an die kulinarischen Füllungen von Windbeuteln denkt. Warum sollte sich eine gebildete Person daran stoßen, daß diese Blasen in einen visuellen Kontext gestellt werden, wo Personen, Landschaften, Innenräume, da sinnfällig, nicht beschrieben werden müssen. Auch Theaterstücke enthalten nur die Rede. Insofern sind Comics Nachfahren des Theaters und Vorboten einer mit den audiovisuellen Medien immer weiter um sich greifenden oralen Kultur. Paradoxerweise polarisieren nun ausgerechnet die privilegierten Vertreter der Schriftkultur, wie der Philosoph der Neuen Medien Norbert Bolz, indem sie das Ende der Gutenberggalaxis herbeirufen.
Verschriftlichung. Am Ort der Installation von Judith Haman, der Grundbuchhalle im Hamburger Ziviljustizgebäude, muß die Vision vom Ende der Verschriftlichung schon allein deswegen Widerspruch ernten, weil es eine wesentliche kulturelle Funktion der Justizbehörden ist, mündliche Äußerungen zu protokollieren und zu archivieren. Das Personal der Justizbehörden bildet mit den Schriftstellern ein Scharnier zwischen dem gesprochenen Wort und seiner Aufzeichnung.
Wir haben es bei der Verschriftlichung mit Instanzen zu tun, die um beim Bild der Windbeutel zu bleiben, den Wind/Atem aus dem gesprochenen Wort herausnehmen, und das Wort als ein schriftliches Zeugnis gerinnen lassen. Das Medium, auf dem geschrieben und gelesen wird, ist trotz der Vermehrung von Bildschirmen auch weiterhin – und wie die Produktionszahlen belegen sogar vermehrt – Papier.
Papier und Architektur. Im Wesentlichen gibt es zwei nützliche Anwendungen der Holzfaser:- Die Masse von aus Holz gewonnenen Fasern ist formbar und deshalb seit jeher ein plastischer Stoff, aus dem sich Gebilde wie Masken formen lassen.
- Zu einer Fläche ausgebreitet, entsteht ein Blatt, das als Seite das Medium der Schrift und der Zeichnung schlechthin ist. Es kann ein Abbild der Welt tragen, das im äußersten Falle die Wirklichkeit zu ersticken droht. So jedenfalls überliefert es die Geschichte eines Königs, der eine Weltkarte im Maßstab 1:1 in Auftrag gab.
Papier repräsentiert das, was auf ihm abgebildet wird. Die Rede, die Bewegung, die Entwicklung wird dazu auf seiner Oberfläche zum Stillstand gebracht, weshalb das Niedergeschriebene dem gesprochenen Worte gegenüber etwas Bezwingendes hat. Es kann immer wieder aufgerufen werden, während die Rede flexibel bleibt und aktuellen Bedingungen angepaßt werden kann.
Wenn Judith Haman hier die je 27 Keramiksegmente, mit denen jede Balustrade der Grundbuchhalle gefüllt ist, mit Papierhohlkörpern bestückt, so verändert das die Ausstrahlung des überdachten Innenhofs gründlich. In diese Innenarchitektur einzugreifen, deren Betonskelett durch die Keramiken des Expressionisten Richard Kuöhl geprägt ist, war schon lange Zeit ein Anliegen der Künstlerin. Indem sie nun die Ornamente bedeckt, läßt sie die moderne Gliederung des Architekten Fritz Schumacher klarer hervortreten. Doch macht die Installation nicht nur die Gestaltungsabsicht des Architekten wiedererkennbar, sondern liefert noch weitergehende Denkanstöße.
Die eigens für diese Installation hergestellten Papierkörper wurden von Staubsaugerbeuteln abgeleitet und tragen auf der in die Flure zeigenden Seite der Körper die typischen Staubeinlaßlöcher. Von ihrer Funktion befreit, erinnern die Papierkörper an Vogelkästen oder an Gehäuse, die Insekten für ihren Nachwuchs bauen.
Ausgehend von obigen Betrachtungen stellen sich schließlich zwei Assoziationen ein: Die Papierkörper filtern den Staub der Jahrzehnte aus den Räumen und die im Papier behausten Worte werden flügge. Es ist als würde die Künstlerin ihnen zurufen: "Buchstaben macht euch auf! Werdet wieder Worte! Löst euch von den Seiten und fliegt in alle Richtungen davon, damit die verstummten Stimmen wieder erklingen." Zum Anderen wird mit der Form der Tüten, die wie kleine Behausungen aussehen, daran erinnert, daß das Papier von den Insekten erfunden wurde, die wie die Wespen aus Holzfaser ihre papierenen Brutkabinen herstellen.
Mit dieser Anspielung, die sowohl die einzelnen Keramikfelder als Waben und das gesamte Gefachsystem des Innenhofes in ein neues Bezugssystem stellt, wird die expressionistische Ornamentik des Gebäudes negiert, und es werden andere semantische Verbindungen zwischen Architektur und Natur gezogen.

Papier und Stein. Das Wort Grundbuchhalle ruft unweigerlich die Vorstellung von einem Raum auf, in dem ein Buch ausliegt, das einen bestimmten Aspekt der Welt abbildet; nämlich die Aufteilung des Stadtgebiets in Parzellen mit den Namen der Besitzer. Der Wechselhaftigkeit der Geschichte wurde in der Gestalt der Grundbuchhalle ein Ort entgegengestellt, an dem der ständig sich wandelnde Besitz an Grund und Boden zu Buche schlägt. Die schützend um das gebundene Buch stehenden Mauern erwecken den Eindruck, daß es die Zeiten überdauern könne.
Im Kampf eines Gemeinwesens gegen die Vergänglichkeit stellt säurefreies Papier einen beständigen Stoff dar. Weil er empfindlich gegen Nässe und Feuer ist, wird er nicht wie bei Insekten zum Werkstoff für Architekturen, deren vornehmlicher Zweck schließlich die Behausung des gesprochenen wie des geschriebenen Wortes ist. Es sind Theater, Bibliotheken und Archive entstanden. Auf diesem Plateau sind der Werkstoff der Künstlerin und die Architektur Fritz Schumachers verbunden. So wie die Architektur die Installation umschließt, wirkt die Installation auf die Innenarchitektur ein.
Man erinnert sich vielleicht noch an das Spiel, das unter dem Namen "Schnick – Schnack – Schnuck" bekannt ist. Dabei kann man mit der Hand entweder eine Seite Papier, einen Stein, ein Brunnenloch oder eine Schere formen. Im Ergebnis schleift der Stein die Schere und fällt in den Brunnen, fällt die Schere in den Brunnen und schneidet das Papier, wickelt das Papier den Stein ein und deckt den Brunnen zu. Das bedeutet, daß Papier sowohl gegen den Stein, wie auch gegen das Stück Architektur, den Brunnen, den Sieg davonträgt. Nur die Schere beherrscht das Papier, sie kann es zerschneiden.
Es ist offensichtlich das Bewußtsein um die Kraft der Idee, des Geschriebenen, der Worte und der Zeichnung auf dem Papier, das sich in diesem Spiel niederschlägt. Zusammen mit dem Wissen um die Macht, die in der Lage ist, Verhältnisse auf Papier zu bannen, läßt es Papier über Architektur und den Baustoff, in dem sich Macht öffentlich darstellt, triumphieren.

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