Ende der "Schonzeit" – zum 70. Jahrestag der Pogromnacht 1938 in Hamburg Altona

Umgebungsrecherchen in der Großen Bergstraße

Die "Kunst" des Herrschens der Nationalsozialisten, wie sie sich auch in Altona zeigte, offenbarte sich für die
Mehrzahl der Deutschen nicht nur in "Nacht- und Nebel-Aktionen" der Gestapo, sondern vielmehr in dem
unheimlichen, jedoch entwaffnend harmlos erscheinenden System der gegenseitigen Überwachung auf
Nachbarschaftsebene. Altona war in 32 Ortsgruppen unterteilt, die in Zellen und Blöcke und Hausgruppen
gegliedert waren.
Der berüchtigte Obersturmbannführer Hubert Richter wohnte in der Großen Bergstraße 130b.
Die Große Bergstraße reichte damals vom Altonaer Bahnhof bis zum Nobistor. Hier war das Zentrum
jüdischer Geschäfte in Altona. Die jüdische Gemeinde zählte etwa 2.500 Menschen, am 1.4.1933
kam es zu ersten Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte.
Einen Tag nach der Pogromnacht, am 10.11.38 begannen Verhaftungen und Deportationen.

Der 70. Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 2008 war Anlass für historische Recherchen
über die Große Bergstraße und für die Veranstaltung eines Rundganges mit Filmen, Bildern und
Diskussion in der Blinzelbar, Große Bergstraße 158.

Die Einladung zum 9.11.2008 zeigte den Straßenplan der Großen Bergstraße von 1937 und Texte
eines Flugblatts der Weißen Rose. Der Stadtplan und das Adressbuch von 1937/38 waren Grundlage für mich,
eine Karte der Großen Bergstraße mit den damaligen Nebenstraßen anzufertigen und darauf die
Hausnummern und Namen der Ladenbesitzer nach Unterlagen aus den Archiven einzutragen.
Flugblätter der "Weißen Rose" wurden auch in Altona im Keller von Prof. Dr. Günther Braun gedruckt.
Er war Chefarzt für Hautkrankheiten im Altonaer Krankenhaus.
Als jüdischer Arzt durfte er nicht mehr praktizieren, musste dann als "Krankenbehandler" in
seiner Wohnung Schillerstraße 40 arbeiten, bis er und seine Familie deportiert wurden.

Rundgang am 9.11.2008

Der Rundgang begann vom Nobistor kommend Große Bergstraße Nr.39, heute Louise-Schröder-Straße,
damals gab es dort Emma Nickels, Fischladen, dann Abraham Katz, Frisiersalon. An den Rabbiner
Eduard Duckesz, der in Altona als Lehrer tätig war, ermordet 1944, wird auf dem gegenüberliegenden
jüdischen Friedhof erinnert. Drei Gebäude Große Bergstr.18, 20, 22 waren "Judenhäuser". Hier wurden
jüdische Altonaer bis zur Deportation auf engstem Raum untergebracht, denen man die Wohnungen
weggenommen hatte; der Rundgang dokumentiert weiter die Wohn und Geschäftsorte von:
Samuel Rosentreter, August Steinberg, Fiedlers Strumpfladen, dessen Inhaber Bernhard Rosen im Juli 1938
auswanderte, das Kaufhaus Gustav Nathan, daneben Max Salomon, im Hinterhaus Ehrhorn, Katz, Lorenz,
Eichberg, Grünbaum, Nagelberg, dann Tauerschmidt, Sternberg, Bösenberg, Kitzky, Morgenstern,
Woll-Meyer, Hirschel, Rosenberg, Freudenberg. Der Rundgang umfasste ca. 40 Hausnummern
mit nachweislich jüdischen Bewohnern oder Besitzern. Bei dem Rundgang wurden alle Orte
jüdischer Bewohner und Läden mit weißer Farbe auf dem Gehweg gekennzeichnet.
Große Bergstr. 219-223, vor dem ehemaligen Wohnort von Maria und Paul Chrupella, Zeugen Jehovas,
wurden vor 2 Jahren die einzigen Stolpersteine in dieser Straße verlegt.

Auf dem Frappant Gelände, Nr.166-180 standen auch nach '45 noch einige Stadthäuser, Dokumente über
die ehemaligen Besitzer waren nicht aufzufinden.
Welche Umeignung hatte hier während der Nazizeit stattgefunden?
Die Häuser wurden in den 70er Jahren abgerissen und das erste Einkaufszentrum Deutschlands,
das Frappant gebaut, demnächst steht hier ein Ikea-Klotz, mitten im Wohngebiet.

An der Ecke Große Bergstr. 250/ Altonaer Poststraße war das Cleja-Stift mit kleiner Synagoge
und jüdischem Altenstift; es wurde später zum "Judenhaus" erklärt. Nach 1948 genehmigte die
Baubehörde Hamburg Gewerbetreibenden den Teilwiederaufbau;
der Eintrag über die Eigentumsverhältnisse im Grundbuch fehlt.

Letzte Station des Rundgangs war Große Bergstr. 264/266 "Handelshof", ehemals Amt für Beamte des
NSDAP Reichsbund, Stadtkreis Altona und Teil der Gemeindeverwaltung, bis vor 5 Jahren war hier
das Altonaer Finanzamt.

Auf Anfragen in einigen Läden, wer denn Vorbesitzer des Hauses gewesen sei oder Fragen nach den Eltern,
die den Laden übernommen hatten, bekam ich unklare oder recht abweisende Antworten.

Dem Kulturausschuss im Altonaer Rathaus wurden diese Recherchen vorgestellt mit dem Anliegen,
die Gedenkveranstaltung des Bezirksamtes zur Pogromnacht mit dem Rundgang auf der Großen Bergstraße
zu erweitern. Um sich vor Ort die nachbarschaftlichen Verhältnisse vor Augen zu führen, die es möglich
machten, daß sämtliche jüdische Ladenbesitzer und Bewohner vertrieben und deportiert wurden.

Die Fraktionen CDU/SPD/Grüne/GAL entschieden dagegen.
Die behördliche Gedenkfeier fand auf dem Platz der Republik statt.

Ende der "Schonzeit"

Ab Juni 2008 standen zwei Hochsitze auf der Großen Bergstraße vor der Blinzelbar. Die fremdartig und deplatziert wirkende Installation sollte ein Angebot sein, aus einer neuen Perspektive brisante Themen der Umgebung zu diskutieren. Bei den wöchentlichen Kanzelreden auf den Hochsitzen sprachen Anwohner und Vertreter politischer Parteien und Institutionen. Die Hochsitze sollten als Symbole des Rechts auf freie Meinungsäußerung wirken und dazu beitragen, eine Nachbarschaft im demokratischen Sinne herzustellen.
Das Projekt "Eine Begegnung zum 70. Jahrestag der Pogromnacht 1938, zur Geschichte und Gegenwart in Altona, Große Bergstraße und anderswo" sollte den Horizont um eine historische Dimension erweitern. Bei der Veranstaltung am 9.11.08 wurde der Vorschlag formuliert, die Hochsitze als Symbol für die Pogromnacht in Altona zu erhalten.
Ein entsprechender Antrag wurde beim Kulturausschuss Altona eingereicht, jedoch nicht öffentlich diskutiert. Am 23.11. kam die Aufforderung, die Hochsitze bis spätestens 31.12.2008 von der Großen Bergstraße zu entfernen.

Die Blinzelbar war von 2005-2010 ein Kunstraum in der Großen Bergstraße 158. Mit dem Begriffsfeld "opakes Displacement" versuchten wir durch künstlerische Interventionen die Belange im Sanierungsgebiet mit gestalten zu können.

Judith Haman, Heiner Metzger Hamburg, Oktober 2012

Die Radiosendung mit Judith Haman über "Eine Begegnung zum 70. Jahrestag der Pogromnacht 1938, zur Geschichte und Gegenwart in Altona, Große Bergstraße und anderswo" am 9.11.2011, 16 - 17.00 Uhr, bei FSK 93,0 ist nachhörbar unter:

http://archive.org/details/DiePogromnacht1938InHamburgAltonaWie2008UndJetztDaranErinnertWird

http://www.hierunda.de/archiv/schonzeit/schonzeit-08.html

Blinzelbar Programm 2008
Hierunda Index

Index


Ein Mitschnitt der Radiosendung:"Pogromnacht 1938 - Judith Haman liest einen historischen Rundgang in Altona"
gesendet am 9.11.2011, 16.00 - 17.00 bei FSK 93,0mhz



weiter unten: Ein Text über die Recherchen zur Progromnacht 1938 in Hamburg Altona, die Erfahrungen mit Gewerbetreibenden bei der Befragung über die Vorbesitzer der Geschäfte, Lücken in den Unterlagen über die Umeignung der Grundeigentümer an der Grossen Bergstrasse, besonders für die Grosse Bergstrasse 166–180, dort, wo bald der Ikea Klotz stehen soll. Und über die Ablehnung beim Kulturausschuss der Altonaer Bezirksversammlung, die Veranstaltung „Eine Begegnung zum 70. Jahrestag der Pogromnacht 1938, zur Geschichte und Gegenwart in Altona, Große Bergstraße und anderswo“ als Erweiterung der behördlichen Gedenkfeiern zu unterstützen sowie die Hochsitze als dauerhafte Installation zur Erinnerung an die Pogromnacht 1938 zu erhalten. hier als PDF